Immer mehr ausgezeichnete Vorlesungen verschiedener Hochschulen sind offen im Internet zugänglich. Statt im sprichwörtlichen "Elfenbeinturm" zu bleiben, setzen viele Unis und Dozenten inzwischen auf den freien Zugang zu ihrer Lehre für jeden Lerninteressenten.
(Hier direkt zu den >600 Videovorlesungen in unserem Verzeichnis.)
In den USA beispielsweise ist die Offenheit der Hochschullehre in einigen Fällen bereits institutionalisiert. Bestes Beispiel: MIT OpenCourseWare mit Lernmaterial zu über 2.000 Kursen, darunter 75 komplette Videovorlesungen. In Deutschland kommt es dagegen häufig noch auf die Initiative einzelner Professoren und Dozenten an.
Ein Berliner Physik-Dozent geht mit gutem Beispiel voran und macht seine Hochschulveranstaltungen per Videoaufzeichnung frei zugänglich. In unserem Interview erklärt er, warum das sinnvoll ist und was dabei sein wichtigster Rat an andere Dozenten ist.
Aktive Mitarbeit statt passivem Mitschreiben
Dr. Thomas Klose unterrichtet Physik an der Humboldt-Universität Berlin. Zu seinen Kursen zählen u.a. die Theoretische Physik und die Quantenmechanik.
Seine Kurse macht er seit einigen Jahren als Videoaufzeichnung über Youtube zugänglich (auch in unserem Verzeichnis enthalten). Dort wurde sein Kanal bereits über 65.000 Mal aufgerufen, was angesichts der Studierendenzahl in solchen Vorlesungen und der nicht unbedingt für jeden Youtube-Nutzer zugänglichen Materie einen recht hohen Wert darstellt.
Als einen Hauptvorteil sieht der Physikdozent, dass über die Videoaufzeichnung die Möglichkeit besteht, den Vorlesungsstoff später nochmals nachzusehen. Im Präsenzunterricht kann so mehr Gewicht auf die aktive Mitarbeit gelegt werden. Und auch zur Weiterbildung für externe Interessenten können die Aufzeichnungen dienen.
Wir sprachen mit Dr. Thomas Klose über seine Erfahrung mit den Videovorlesungen.
"Studierende können sich voll auf die Mitarbeit konzentrieren"
Edukatico: Herr Dr. Klose, seit wann lassen Sie Ihre Vorlesungen per Video aufzeichnen? Und wie kam es dazu, diese auch öffentlich über Youtube zugänglich zu machen?
Dr. Thomas Klose: Die erste Vorlesungsserie, die ich aufgenommen habe, ist der Kurs "Klassische Theoretische Physik" aus dem Wintersemester 2014/15. Die ursprüngliche Idee war es, daraus im nächsten Durchgang einen "Flipped Classroom" zu machen, d.h. im folgenden Jahr den Studierenden die Videos als Vorbereitung auf die Präsenzzeit zu geben und dann während der Präsenzzeit die Inhalte der Videos in Beispielen gemeinsam zu diskutieren.
Dazu ist es aber nicht gekommen, da simple Mitschnitte einer Vorlesung sich nicht gut für einen Flipped Classroom eignen – sie sind zu lang. Dennoch habe ich daran festgehalten, die Vorlesungen aufzuzeichnen, weil sich für die Studierenden dadurch die Möglichkeit ergibt, schnell nochmal etwas "nachschauen" zu können, wenn sie während der Vorlesung z.B. durch Mitschreiben oder Nachvollziehen (oder durch den Nachbarn) kurz abgelenkt waren.
Youtube hatte ich schon immer als Videoportal benutzt, weil es außerordentlich praktisch in der Benutzung ist, jedoch waren die Videos zunächst "unverlinkt" und nur für die Kursteilnehmer/innen sichtbar. Irgendwie hatte sich der Kurs aber herumgesprochen und ich bekam Anfragen von anderen Studierenden, in den Kurs aufgenommen zu werden, um Zugang zu dem Vorlesungsmaterial zu erhalten. Daraufhin hatte ich die Videos einfach öffentlich gemacht, und wunderte mich – in Anbetracht der Tatsache, wie viel ich selbst über Youtube lerne – warum ich nicht sofort auf die Idee gekommen war.
Edukatico: Welches ist aus Ihrer Sicht der größte Vorteil der Videoaufzeichnungen für Ihre aktuellen Studierenden?
Dr. Thomas Klose: Meiner Meinung nach ist der größte Vorteil der Videoaufzeichnungen für die Kursteilnehmer/innen – und der Grund, warum ich mir die Mühe mache, jedes Mal die Kameraausrüstung hin und her zu schleppen – dass sich die Studierenden voll auf die Mitarbeit während der Präsenzzeit konzentrieren können und nicht mit dem Abschreiben beschäftigt sind.
Ein gedrucktes Skript leistet diese Aufgabe nur unvollständig, da während der Vorlesung doch immer noch etwas mehr oder etwas Anderes gesagt wird, was die Studierenden selbstverständlich auch festhalten möchten. Idealerweise verteilt man ein kompaktes Skript (da reichen auch Scans der eigenen Notizen) und schneidet die Vorlesung mit. Und hier reicht es, eine Kamera ohne Schwenks und Zooms einfach mitlaufen zu lassen. Das ist kaum Mehrarbeit für den/die Dozenten/in, aber verbessert die aktive Teilnahme und damit das Lernen der Studierenden.
Edukatico: Gibt es auch Nachteile dieser Videovorlesungen oder besondere Schwierigkeiten dabei?
Dr. Thomas Klose: Ich könnte mir vorstellen, dass der ein oder andere durch die Gegenwart der Kamera zunächst etwas eingeschüchtert ist und sich evtl. nicht traut, Fragen zu stellen – und damit hätte ich genau das Gegenteil von dem erreicht, was ich mit der Videoaufzeichnung bezwecke. Entsprechend würde ich niemals eine Übungsstunde filmen.
Und in der Vorlesung versuche ich dieses Problem dadurch zu vermeiden, dass von den Kursteilnehmern/innen nichts zu sehen und zu hören ist. Es gibt weder eine Saalkamera noch ein Saalmikrofon. Dennoch ist es manchmal unvermeidlich, die Hinterköpfe der Leute in der ersten Reihe bzw. deren Wortbeiträge über das Ansteckmikrofon einzufangen – aber "die Leute der ersten Reihe" sind dadurch sowieso nicht einzuschüchtern.
Dr. Thomas Klose: Klassische Theoretische Physik
"Einige Studierende können nur wegen der Aufzeichnung am Kurs teilnehmen"
Edukatico: Wie steht es mit den Teilnehmerzahlen der Präsenzveranstaltung? Hier wird ja oft ein "Fernbleiben" von Studierenden befürchtet, wenn es die Vorlesung auch als Video gibt.
Dr. Thomas Klose: Tatsächlich höre ich von meinen Kolleginnen und Kollegen viel zu oft das Argument, dass der Anreiz für die Studierenden in die Vorlesungen zu gehen verloren ginge. Die meisten Studierenden wissen jedoch, dass es ungleich effektiver für das Lernen, Verstehen und Behalten ist, in der Veranstaltung live mitzuarbeiten.
Ich habe leider keine Daten um abschätzen zu können, wie viele Studierende von den Vorlesungen aufgrund der angebotenen Videos fernbleiben. Aber ich habe Daten darüber, dass einige Studierende nur deswegen am Kurs teilnehmen können, weil die Vorlesung aufgezeichnet werden: 5 Studierende (das entspricht rund 10%) haben mir im letzten Semester von Konflikten in deren Stundenplänen berichtet, die sie durch die Möglichkeit, meinen Kurs als "Fernkurs" belegen zu können, gelöst haben.
Edukatico: Was ist Ihre Idealvorstellung zur zukünftigen Rolle digitaler Medien in der Hochschulbildung? Was könnte dabei zukünftig die größte Veränderung im Vergleich zum Status Quo sein?
Dr. Thomas Klose: Eigentlich denke ich, dass der direkte, persönliche Kontakt für die Ausbildung im gewählten Studienfach, in dem Expertenwissen angestrebt wird, unersetzlich ist. Da können die digitalen Medien nur einfache Werkzeuge sein (wie "Videoskript", computergestützte Prüfungen etc.).
Etwas provokant gesagt, denke ich aber auch, dass es im anscheinend begonnenen "postfaktischen Zeitalter" immer wichtiger werden wird, dass sich die Menschen aus verlässlichen Quellen allgemein bilden (können). Um diesen Bedarf decken und ein konsumierbares (d.h. kompaktes und doch verständliches) Angebot erstellen zu können, werden wir die digitalen Medien benötigen. Ich sehe die digitalen Medien also eher als sinnvoll für Menschen an, die sich einem Thema aus Sicht eines Hobbys annehmen. Ich selbst habe beispielsweise mit Hilfe von Videos Maschinennähen, gesund Kochen und Android-App-Entwicklung gelernt, zwar ohne dem Expertenwissen auch nur nahe zu kommen, aber dennoch dabei eine gewisse Unabhängigkeit erlangt zu haben.
Edukatico: Wenn andere Dozenten über eine veröffentlichte Videoaufzeichnung nachdenken: was wäre Ihr wichtigster Tipp aufgrund Ihrer bisherigen Erfahrung?
Dr. Thomas Klose: Bei der Wahl der technischen Werkzeuge für die Videoaufzeichnung gibt es ein riesiges Spektrum, das von einer simplen Kompaktkamera auf einem Stativ bis zu Multikamerainstallationen reicht. Ein ähnliches Spektrum gibt es bei der Bearbeitungssoftware. Meine Meinung ist es, immer das einfachste Mittel zu wählen, mit dem das gewünschte Ziel noch erreicht werden kann.
Ansonsten droht die Videoaufzeichnung möglicherweise einen größeren Stellenwert zu bekommen als der zu vermittelnde Inhalt. Und je weniger Zeit Sie in die Aufzeichnungen stecken müssen, desto eher bleiben Sie dabei und desto mehr Zeit bleibt für die Konzentration auf den Kursinhalt.
Edukatico: Vielen Dank für dieses Gespräch und weiter viel Erfolg für Ihre Vorlesungsaufzeichnungen!
Zur Person
Dr. Thomas Klose lehrt und forscht im Fach Physik an der Humboldt-Universität Berlin. Zu seinen Forschungsgebieten zählt u.a. die Stringtheorie. Für seine gute Lehre wurde er an der Berliner Hochschule bereits mit einem besonderen Preis ausgezeichnet.
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Die Vorlesungsvideos verschiedener Universitäten sind in unserem Verzeichnis aufgelistet. Dort findest Du auch tausende weitere Online-Kurse aus 22 Fachgebieten, u.a. auch die MOOCs (massive open online courses) internationaler Top-Hochschulen wie Harvard, Stanford & Co..
In einem separaten Beitrag geben wir eine Übersicht für Hochschuldozenten zum Thema Online-Vorlesungen ("Was sollten Professoren beachten?"). Und in einem früheren Interview befragten wir einen Münchener Professor mit über 500.000 MOOC-Teilnehmern zu seinen Online-Erfahrungen.
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